Brief in die Ewigkeit, Newsletter Nr. 21

Liebe Hildegard von Bingen,
auch wenn Du bereits zu Lebzeiten wie eine Heilige von Deinen Zeitgenossen angesehen wurdest, erlaube ich mir heute die sehr persönliche Anrede. Ich weiß, dass Du, obwohl man Dich als Universalgelehrte bezeichnen kann, immer Wert daraufgelegt hast, nicht abgehoben zu sein und stelltest sogar fest, dass Du gar nicht gebildet seist. Aber so ist es mit den wirklich gebildeten Menschen auch heute, diese machen im Gegensatz zu den vielen Pseudowissenschaftlern kein Gewese um ihre Person, sondern haben dagegen wirklich etwas zu sagen, an das sich andere Menschen halten und orientieren können.
Du zeigst den heutigen Christen eindrucksvoll, dass unsere Kirche schon einmal im 12. Jahrhundert fortschrittlicher war, als sie sich heute darstellt. Papst Eugenius III bestätigte die Authentizität eines Deiner Schlüsselwerke, nämlich den ersten Teil Deiner theologischen Schrift „Scivias“ (Wisse die Wege) und erteilte Dir die Predigterlaubnis. Damit warst Du die erste Frau, die eine päpstliche Bestätigung als Autorität in theologischen Fragen erhalten hat. Wenn man dies auf die heutige Zeit übertragen würde, dann wärst Du der Beweis, dass es keine Quotenfrauen geben muss, denn die Frauen, die etwas zu sagen haben, benötigen nicht das Etikett der Quote, um die Erlaubnis zu erhalten – von wem eigentlich? – etwas sagen und tun zu dürfen.
Deine theologischen Ausführungen im dritten Buch „Liber divinorum operum“ (Buch der göttlichen Werke) beziehen sich auf die Schöpfungsordnung, durch die Leib, Seele, Welt und Kirche, die Natur unzertrennbar zusammengehören. Sie seien in die Gnade und die Verantwortung des Menschen gestellt. Dies ist eine fundamentale Feststellung, die ganze theologische Abhandlungen ersetzt. Es bedeutet nämlich im Klartext, dass dem Menschen von Gott die Verantwortung für alles, was hier im irdischen Bereich geschieht oder auch nicht geschieht, gegeben wurde und ihnen höchst persönlich die Verantwortung übertragen wurde.
Du hast dies in Deiner Zeit gelebt. Deshalb warst Du auch als Frau in der damaligen Zeit für Deine Zeitgenossen ein Vorbild. Und was hier besonders betont werden muss, als Vorbild einer Kirchenlehrerin, einer „Doctor Ecclesiae universalis“. Auch dies zeigt den Weitblick, aber auch die Toleranz, die der damals amtierende Papst Eugenius III hatte, indem er sich mit Deinen Werken befasste und sie zur offiziellen Kirchenlehre erklärte.
Liebe Hildegard von Bingen, heute wird viel von Würde, Emanzipation und anderen Schlagworten geredet. Was wäre, wenn heute wieder eine Frau zur Kirchenlehrerin erhoben würde und was noch wichtiger wäre, wenn die Gläubigen dies akzeptierten? Wir müssen nicht immer so arrogant sein zu meinen, nur die neue Zeit sei in der Lage, die Welt zu verändern und zu verbessern. Vielleicht sollten wir uns einmal wieder mehr mit unseren Wurzeln und unserer Kultur des in Verruf gekommenen christlichen Abendlandes befassen. Es könnte sein, dass wir mehr erkennen, als uns heute die vermeintlichen Meinungsführer erzählen und vielleicht würde unsere Welt dadurch auch für alle Kreaturen in unserer irdischen Welt wieder etwas lebenswerter.
Natürlich bezog sich Deine Arbeit auf viele Bereiche des menschlichen Lebens. Ich erinnere nur an Deine medizinischen Beobachtungen und Erkenntnisse. Aus diesen Beobachtungen hast Du entsprechende Handlungsanweisungen abgeleitet. Aber der Kern Deines Wirkens scheint mir die theologische Durchdringung der Zusammenhänge in der Welt, das heißt der irdischen und der kosmischen Welt, zu sein.
Heilige Hildegard von Bingen, Papst Gregor IX holte mit der Heiligsprechung das nach, was Deine Zeitgenossen ohnehin von Dir bereits wussten, sende uns neue Impulse, damit wir uns wieder auf die Würde aller Kreaturen besinnen und eine bereits formulierte Ethik wieder in unser Bewusstsein rücken.

Dein Dich verehrender Erdenbürger

Jörg-Michael Bornemann