Die Erinnerung an Martin von Tours unterlag extremen Wandlungen und musste für ganz unterschiedliche Botschaften herhalten. „Kaum ein anderer Heiliger wurde als Bezugspunkt und Bezeugungsinstanz für so unterschiedliche Identitäten instrumentalisiert und ‚erinnert‘ wie er.“ (Hubert Wolf). Vom wundertätigen Mönchsbischof eines Sulpicius Severus über den rechtgläubigen Bekenner und den militarisierten Martin der Merowinger und Karolinger wurde Martin ab dem 12. Jahrhundert zum sozialen Heiligen und zum Sinnbild der christlichen Nächstenliebe. Machen wir uns also auf den Weg, um den „Erinnerungsort“ Heiliger Martin zu erkunden.
Als Martin von seinem Sterbeort Candes die Loire hinauf zum Begräbnis nach Tours gebracht wurde, hätten – so sagt es eine alte Legende – an den Uferhängen Ginster und Weißdorn noch einmal geblüht, ein Meer weißer Blüten habe den Fluss gesäumt. Und so werden die letzten warmen Tage, die der November zuweilen bringt, vor allem in Süddeutschland und der Schweiz „Mar-tinssommer“ oder „Martini-Sommer“ genannt. Meist setzt er um den 11. November, den Namenstag Martins, ein und bringt Temperaturen von bis zu 20 Grad und macht in den entsprechenden Jahren in den Weinbaugebieten eine Novemberlese möglich. Sonne ist dabei nicht unbedingt zu erwarten, auch Nebel und starker Wind sind keine Seltenheit. Meist hält sich der Martinssommer aber nicht länger als eine Woche und geht dann fast nahtlos in Nachtfröste und winterliches Wetter über. Eine alte deutsche Heiligenlegende bringt den Martinssommer sogar mit der Mantelteilung in Zusammenhang: „Diese edelmütige Tat hatte er im Drillhäuschen zu bezahlen, in das ihn der Zenturio wegen Sachbeschädigung stecken ließ. Da man ihm die übrige Hälfte seines Mantels wegnahm, hatte er sehr unter der Kälte zu leiden, bis plötzlich der Nebel sich zerteilte und die Sonne durchbrach. Dies war der erste Martinssommer“ (Roman Mensing nach D. H. Kerler).
Um Martins Begräbnisort scheint es ja, wie wir gesehen hatten, Konflikte gegeben zu haben, und er wurde zuerst auf dem öffentlichen Friedhof westlich der Stadt Tours beigesetzt. Erst sein Nachfolger Brictius, der Mitglied von Martins Mönchsgemeinschaft in Marmoutier gewesen war, und mit dem er und die Gemeinde von Tours heftige Konflikte ausgefochten hatten, errichtete gegen 430 eine kleine, hölzerne, Basilika über dem Grab Martins, in der er auch selbst begraben wurde. Mar-tins Verehrung blieb in den ersten 150 Jahren nach seinem Tod (397) auf Tours beschränkt. Allerdings sprach eine Synode in Orleans 511, an der 32 Bischöfe teilnahmen, von der „Pilgerschaft Galliens nach Tours“ und stellte diese Wallfahrt gleichrangig neben die Wallfahrten nach Rom und Jerusalem. Die Zehn Bücher Geschichten (einer christlichen Universalgeschichte in antiker Tradition) des Gregors von Tours (bischöflicher Nachfolger Martins 573 bis 594) und seine Libri IV de virtutibus sancti Martini [Vier Bücher über die Wunder des heiligen Martin] gaben der Martinsverehrung nochmals einen richtigen Schub. Martin war zwischenzeitlich zum Heiligen des fränkisch-merowingischen Königshauses und Schlachtenhelfer „aufgestiegen“.
Und in der Mitte des 7. Jahrhunderts kam eine besonders kostbare Martinsreliquie in den Besitz der merowingischen Dynastie: der halbe Soldatenmantel, den Martin nach der Mantelteilung von Amiens behalten hatte, erstmals bezeugt 679 am Hof König Theuderichs. Sie wurde von den Franken als Garant des Sieges in die Schlachten mitgetragen: Der asketische Mönch trat ganz hinter dem Soldaten zurück. Es kam zu einer „Politisierung“ und „Militarisierung“ der Martinsverehrung im frühen Mittelalter. Nach ihrem Staatsstreich vergewisserten sich die Karolinger der Reliquie, zugleich auch als Zeichen ihrer Legitimierung. Capella bezeichnet diese berühmteste Martinsreliquie. „Das Wort ist die Verkleinerungsform des spätlateinischen capa oder cappa (vgl. deutsch Kappe, Kapuze, engl. cape, franz. cape) für Mantel. Zunächst nur auf den Mantel Martins selbst bezogen, wurde der Begriff bald auch auf den Aufbewahrungsraum im Palast übertragen. Dementsprechend erhielt der Hofgeistliche, der die kostbare Reliquie zu bewahren, Eidesleistungen auf sie zu beurkunden und sie als mächtigen Schutz bei Kriegszügen der merowingischen Könige in einem eigenen Zelt mitzuführen hatte, den Namen ‚capellanus‘. Im Laufe des 7. Jh.s gewöhnte man sich auch daran, die Gemeinschaft der Musiker, die den Gottesdienst in der capella begleiteten, insgesamt als die Kapelle zu bezeichnen. Später ist das Wort in dieser Bedeutung auch auf profane Musikgruppen übergegangen (…) . Der capellanus am fränkischen Hof wurde in karolingischer Zeit für den gesamten Gottesdienst am Königshof verantwortlich und verwaltete als Schriftkundiger auch das Urkundenwesen (…) . Zunächst aber weitete sich das Amt des capellanus weiter aus und musste auf mehrere Personen verteilt werden (…) . Auch die Kurie in Rom übernahm den Titel für päpstliche Hauskaplane. Bischöfe und Fürsten hielten ihren capellanus, was dazu beitrug, dass man auch die Beträume in ihren Residenzen und ihre Eigenkirchen als Kapellen bezeichnete, schließlich auch alle kleineren, nicht mit Taufrecht ausgestatteten Kirchen und die Chor- und Seitenkapellen mittelalterlicher Kathedralen. (…) . Das Wort capellanus bezeichnet heute als Kaplan (engl. chaplain) generell den Hilfsgeistlichen. So hat der zerschnittene Militärmantel Martins Sprachgeschichte gemacht. Die Politisierung der Verehrung wirkte dabei als beschleunigendes Vehikel. Martins Name und seine ‚Capella‘ sind in zahlreichen Varianten in den europäischen Sprachen gegenwärtig, vielfach, ohne dass man ihren Ursprung kennt.“ (Roman Mensing).
Wie stark sich Martinsverehrung und Martinspatrozinien zu Beginn des 9. Jh.s im Karolingerreich ausgebreitet hatten, dokumentiert eine Urkunde, die Ludwig der Fromme am 19. Dezember 822 in Frankfurt ausstellte. Auf Bitten des Bischofs Wolfgar von Würzburg bestätigte er frühere Schenkungen für die Kirche von Würzburg, darunter 11 Martinskirchen. Und für das mittelalterliche Mönchtum blieb Martin das große Vorbild: Benedikt von Nursia stellte die erste Kapelle seiner Mönchs-gemeinschaft am Ort eines ehemaligen Apolloheiligtums unter das Patronat Martins. Sie wurde die Keimzelle seines Ordens: Monte Cassino. Nach Benedikt war Odo, der zweite Abt des Klosters Cluny, einer der eifrigsten Martinsverehrer. Die Klosterreform, die er von Cluny aus betrieb, richtete er an dem Asketen von Tours aus. In Tours ließ Odo sich auch begraben.
Das Ende der karolingischen Dynastie wirkte sich auf die Martinsverehrung aus. Der Martinskult ging stark zurück. Für das französische Königtum wurde der heilige Dionysius seit dem 11. Jahrhundert zum ausschließlichen Schutzheiligen. In „Deutschland“ setzten die Ottonen auf den heiligen Mauritius und die Heilige Lanze. Und so wie die Perspektive auf den heiligen Martin im Laufe der Zeit mehrfach gewechselt hat, steht heute wieder der in der Mantelteilung versinnbildlichte Kern seiner Botschaft im Vordergrund. Beim Martinsfest wird sie von vielfältigen Bräuchen begleitet, die bis in das frühe Mittelalter zurückreichen.
Eine Wurzel liegt im wirtschaftlich-bäuerlichen Umfeld. Bereits in der Spätantike wurde in Galli-en, früher als in Rom, eine Adventszeit gefeiert, die ihren Bezugspunkt im Epiphaniefest des 6. Ja-nuars hatte (Weihnachten war noch unbekannt, als kirchlicher Feiertag ist der 25. Dezember seit 336 in Rom belegt). Der 11. November war der Auftakt zu einer vierzigtägigen, vorweihnachtlichen Fastenzeit (an Sams- und Sonntagen wurde, wie in der österlichen Fastenzeit, nicht gefastet), und damit eine Zäsur im Arbeitsjahr der Bauern. Die Ernte war eingebracht, das Gesinde entlohnt. Feld und Hof waren winterfest gemacht. Am 11. November wurden – wie wir gleich sehen werden – nicht nur Feste gefeiert, sondern auch Rechnungen bezahlt. Denn am Ende
des bäuerlichen Wirtschaftsjahres wurden Abgaben fällig, die meist in Naturalien beglichen wurden. „Die ‚kleine Pacht‘ für einen Acker oder eine Wiese beglichen die Bauern häufig mit einer sogenannten Pachtgans, die über den Sommer und Herbst gemästet wurde und am 11. November fett genug war. Aus der Pachtgans, über die sich weltliche Grundherren wie Klöster freuten, wurde mit der Zeit die Martinsgans. Da die Reicheren sich erlauben konnten, am Martinsfest eine Gans zu schlachten, wurde der Gänsebraten im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit zu einem Merkmal der Oberschicht. Die Gans landete nicht nur auf dem Teller, sondern fand auch Eingang in die Kunst. Sie entwickelte sich zu einem Symbol für das Martinsfest. Die Begründung für diese Verbindung stellte Martinsverehrer wie Gänseliebhaber vor einige Schwierigkeiten. Denn die Vita Martini des Sulpicius war ohne das Schnattervieh ausgekommen. Aus der Not machte man schließlich eine Tugend und erfand ein Jahrtausend nach Sulpicius, wahrscheinlich im Rheinland, eine sogenannte Sekundärlegende, die Martin in einen Gänsestall fliehen ließ, um dem Bischofsamt in Tours zu entgehen. Da die Gänse ihren ungebetenen Gast mit ihrem Geschnatter verrieten, wurde er auf den Bischofsthron gesetzt, und die Verräter werden seitdem geschlachtet. Die Kunst ging gnädiger mit den Gänsen um: Seit dem 16. Jahrhundert wird der Bischof von Tours auch mit der Gans als Attribut dargestellt.“ (Judith Rosen).
So war der 11. November bis in die jüngste Zeit ein wichtiger Termin im bäuerlichen Kalender. Er wurde zu einem besonderen Rechts-, Geschäfts- und Markttag, auch zu einem Fasnachtstag. Alte Quellen berichten von sehr exzessiven Feiern der „Martinsminne“, die zu Ermahnungen und Verboten Anlass gaben. Die Jahreszeit brachte es auch mit sich, dass gerade der junge Wein probierfertig war. Der erste Wein des Jahres wurde genossen, was Martin in der volksnahen Dichtung den Ruf als Patron der Trinker einbrachte. Gut zu essen und zu trinken bezeichnen die Franzosen bis heute landläufig als „martiner“ oder als „faire la Saint-Martin“ [den heiligen Martin machen] – und das, obwohl der frühere Mönch und Bischof von Tours als ausgemachter Asket bekannt war. Ja, es gibt sogar die Bezeichnung „Martinsschmerzen“ („mal de Saint-Martin“) für den Kater und/oder das Bauchweh nach üppigem Gelage…
“Seit dem fünfzehnten Jahrhundert entwickelte sich verstärkt im niederrheinischen Gebiet der Brauch, am Abend des Martinstags mächtige Feuer zu entzünden, wie entsprechende Verbote durch Stadtmagistrate belegen. Aus den Martinsfeuern entstanden Fackelzüge, die Gläubige offensichtlich zu Protesten gegen Abgaben und die beginnende Bußzeit nutzten. Nach der alten Leseordnung (…) wurde am Festtag des heiligen Martin die Lucerna-Perikope aus dem Lukasevangelium (Lk 11,33-36) vorgetragen: ‚Niemand zündet ein Licht an und stellt es in einen versteckten Winkel oder stülpt ein Gefäß darüber, sondern man stellt es auf einen Leuchter, damit alle, die eintreten, es leuchten sehen.‘ Die Aufklärung und das neunzehnte Jahrhundert milderten den subversiven Charakter der Martinsfeuer. Aus dem Protest erwachsener Katholiken wurde ein Kinderumzug. Um die Gefahr von Bränden klein zu halten, trugen die Kinder um die Mitte des 19. Jahrhunderts statt der Fackeln geschlossene Laternen oder bunte Lampions in der Hand. Der erste organisierte Laternenumzug fand wohl 1890 in Düsseldorf statt. (…) Während des Dritten Reichs und des Zweiten Weltkriegs ruhte das Brauchtum um den heiligen Martin. Nach 1945 kam es zu einem Neubeginn. Pfarreien, Schulen und Stadtteile organisierten ihre eigenen Martinszüge, deren Ausrichtung religiös und sozial war. Das Teilen wurde großgeschrieben, und Martin wurde der ‚Sozialheilige.’“ (Judith Rosen).
Martin von Tours war übrigens auch der Namenspatron von Martin Luther, der vermutlich am 10. November 1483 geboren wurde und wie damals üblich den Namen des Heiligen seines Tauftages erhielt. Für Luther und für viele Katholiken bis weit in die Mitte des 20. Jahrhunderts hinein war nicht die Feier des Geburtstages, sondern die Feier des Namenstages das entscheidende Ereignis. In lutherisch geprägten Gegenden findet das Martinisingen am Geburtstag von Martin Luther statt. „Beim evangelischen Martinisingen tragen die Kinder wie beim entsprechenden katholischen Brauch Laternen durch die dunkle Novembernacht. Vermutlich steht die Vorverlegung des Umzuges und in manchen Landschaften auch des ganzen Martinstages vom 11. November auf den Vortag im Zusammenhang mit dem dreihundertjährigen Reformationsjubiläum 1817. (…) Es dürfte also ungefähr aus der Zeit stammen, in der der ursprünglich allen christlichen Konfessionen in Deutschland gemeinsame Brauch des Martinisingens protestantisiert und auf den evangelischen „heiligen Martin“ umgedeutet wurde. Von daher erklärt sich auch die antikatholische Polemik der Lieder, die zu Martini gesungen wurden und teilweise auch heute noch gesungen werden. (…) Natürlich kommt man nicht nur bei der Betrachtung von norddeutschen evangelischen Martini-Bräuchen auf die Idee, dass der Wittenberger Theologieprofessor und Augustinermönch Martin Luther einen katholischen Heiligen substituieren soll. Auch wenn Luther selbst jede Verehrung seiner Person ablehnte – berühmt ist seine Äußerung ‚Wie käme denn ich armer stinkender Madensack dazu, dass man die Kinder Christi mit meinem heillosen Namen nennen sollte?‘ – und der entfalteten römisch-katholischen Heiligenverehrung des späten Mittelalters zunehmend kritisch gegenüberstand, wurde er schon zu Lebzeiten fast wie ein Heiliger verehrt.“ (Christoph Markschies). In einer Predigt vom 11. November 1516 legt Luther Lukas‘ Perikope 11,34 aus: „Das Auge ist des Leibes Licht. Wenn nun dein Auge einfältig sein wird, so ist dein ganzer Leib lichte. So aber dein Auge ein Schalk sein wird, so auch dein Leib finster.“ „Ein solch Auge ist gewesen der heilige Martinus nach seinem Leibe, welcher zu Tours befindlich, welcher Leib dazumal ganz licht war, weil das Auge einfältig und wahrhaftig war.“ (nach Judith Rosen).
Der Martinstag lebt. Und er lebt bis heute. Mit den Laternenumzügen der Kinder hat er in den letzten Jahren in vielen Kindergärten und Pfarreien neue Popularität gewonnen. Martin ist der Patron der Armen und Gefangenen, der Flüchtlinge, der Leidenden und Bedürftigen – in der Vergangenheit wie in der Gegenwart. Er ist der barmherzige Heilige schlechthin, eine Ikone der christlichen Nächstenliebe, der „charité de Martin“ [die Nächstenliebe, Mildtätigkeit, Wohltätigkeit des Martin], wie man in Frankreich sagt. Keinen Heiligen hat die heutige zerrissene Welt so nötig wie diesen nach dem Kriegsgott Mars benannten Mann, der vom Soldaten zum demütigen Mönch und Frie-densbringer wurde.
Christian Esser
Zum Weiterlesen:
Zwei lesenswerte Bücher, die sich hervorragend ergänzen (das Buch Roman Mensings ist nur noch antiquarisch zu bekommen):
– Roman Mensing, Martin von Tours, Patmos Verlag, ISBN 978-3491703803
– Judith Rosen, Martin von Tours – Der barmherzige Heilige, Verlag Philipp von Zabern in Wissenschaftliche Buchgesellschaft, ISBN 978-3805350242
und außerdem
– Sankt Martin I und Sankt Martin II in Erinnerungsorte des Christentums, Christoph Markschies u. Hubert Wolf (Hrsg.), C.H.Beck, ISBN 978-3406605000
– zum Martinskult in Frankreich: „Den heiligen Martin machen“ , katholisch.de
https://www.katholisch.de/artikel/11175-den-heiligen-martin-machen