Brief in die Ewigkeit – Newsletter Nr. 30

Lieber Lorenz Werthmann,

im Rahmen meiner Gedanken zu den Werken der Barmherzigkeit, die eine wesentliche Grundlage unseres christlichen Glaubens sind und die Jesus Christus ausführlich in der Bergpredigt ausgeführt hat, erinnerte ich mich an Deinen 150. Geburtstag, den Du am 1. Oktober begehen wirst. Als Du am 1. Oktober 1858 in Geisenheim geboren wurdest, konnte keiner ahnen, dass Du im Jahr 1897 den Caritasverband, das Sozialwerk der Katholischen Kirche, gründen wirst. Als Priester und Intellektueller, Du hast in Theologie und in Philosophie promoviert, lebtest Du keinesfalls in einem Umfeld der Armut und des Verzichts. Gleichwohl erkanntest Du seinerzeit die große Not, in der sich breite Bevölkerungsschichten befanden und suchtest nach Lösungen, wie man dem Elend der damaligen Zeit beikommen könne. Insofern war dies eine Antwort auf die Forderung der Werke der Barmherzigkeit, die Nackten zu bekleiden, den Fremden aufzunehmen und den Kranken beizustehen. Aber alleinige gute Gedanken bringen noch keine aktuellen Hilfen. Wichtig ist es, die Gedanken in Taten umzusetzen. Besonders bemerkenswert dabei sind die Schritte, die Du für erforderlich gehalten hast, um effektiv helfen zu können: Studieren, Organisieren und Publizieren waren die Zauberworte für eine effektive Schaffung eines Hilfsangebots, das nicht nur ein kleines Strohfeuer, sondern eine nachhaltige Hilfe für die Betroffenen schafft. Probleme müssen an ihrer Wurzel erkannt werden, dazu ist das Studium eines Sachverhalts erforderlich. Die Hilfe muss organisiert werden, weil sie nur dann effektiv sein kann und man muss darüber reden und schreiben, damit Mitstreiter überzeugt werden, sich zu beteiligen, sei es durch tätige Hilfe oder durch Spenden.

Lieber Lorenz Werthmann, was wahrscheinlich ein wenig in Vergessenheit geraten ist, ist die Ursprungsidee, dass der Caritasverband die Sozialbewegung der Kirche sein sollte und nicht fernab der Kirchengemeinde glaubt, sich nur als politisches Sprachrohr zu sehen und dabei sich mit den politischen Verhältnissen so zu arrangieren, dass man sich zu sehr mit dem Staat gemein macht. Dabei denke ich einige Jahrhunderte zurück und schaue auf die praktischen und sehr konkreten Werke. Auch die Fugger stammen – wie jeder weiß – nicht aus ärmlichen Verhältnissen. Sie sind am Textilhandel in Italien reich geworden und mussten sich um ihren eigenen Unterhalt keine Sorgen machen. Aber trotz des eigenen Reichtums nahm Jakob Fugger, der von 1459 bis 1525 in Augsburg lebte, die Hinweise der Werke der Barmherzigkeit auf und stiftete die Fuggerei in Augsburg. Dabei handelte es sich um eine erste Armensiedlung für Handwerker und Tagelöhner. Auch damals gab es die gleichen sozialen Probleme, wie sie Lorenz Werthmann drei Jahrhunderte später ebenfalls vorfand und wie sie auch noch heute existieren. Was aber sowohl bei dem Projekt der Fugger als auch bei den Überlegungen von Lorenz Werthmann Grundlage des Handelns war, war dass man die Armen ernst nahm und ihnen Hilfe zur Selbsthilfe anbot. Auch die Fugger kämpften – trotz eigenem Reichtum – gegen die damals herrschenden prekären Arbeitsbedingungen der Tagelöhner und gegen Armut und Krankheit. Sie halfen aber nicht nur mit Worten, sondern mit konkreten Angeboten. Jeder der arm, krank und sonstig bedürftig war, konnte in der Fuggerei in Augsburg Aufnahme finden. Es gab aber eine Voraussetzung: Betteln war verboten und jeder musste sich im Rahmen seiner Möglichkeiten an dem Gemeinwesen beteiligen.

Lieber Lorenz Werthmann, ich wünschte mir, dass es Dir auch nach 150 Jahren gelingt, Deine von Dir gegründete Organisation zu ermuntern, nicht nur große sozialpolitische Stellungnahmen zu erarbeiten, nicht nur Aufgaben zu übernehmen, die vom Staat finanziert werden und natürlich nach dessen Bedingungen durchgeführt werden müssen. Rege Deine Organisation an, dem Beispiel der Fugger zu folgen und eigene Einrichtungen auch ohne staatliche Initiativen zu gründen. Geld dafür sollte in der heiligen Mutter Kirche zu finden sein. Und wie hast Du gesagt: Man muss das Problem studieren, man muss es dann organisieren und man muss es in der Öffentlichkeit publizieren. Mit dieser Methode werden sich auch heute im 21. Jahrhundert noch Christen finden, die sagen: „Hier bin ich dabei, hier helfe ich“. Das wäre für Dich wahrscheinlich das schönste Geburtstagsgeschenk anlässlich Deines 150. Geburtstages.

Mit herzlichen Grüßen ins Jenseits

Dein Erdenbürger Jörg-Michael Bornemann