Lieber Johannes Paul I,
ein Aphorismus des berühmten Frankfurter Psychiaters und Gesellschaftswissenschaftlers Erich Fromm erinnerte mich an Deine nur dreiunddreißig Tage dauernde Zeit als Papst unsrer katholischen Kirche. So möchte ich diesen Brief direkt an Dich richten, weil ich sicher bin, dass Du viele Fragen, die unsere Gesellschaft im Allgemeinen und unsere kirchliche Gemeinschaft im Besonderen noch heute betreffen, hättest beantworten und auch soweit es die Kirche betrifft, hättest lösen können.
Erich Fromm schrieb: „Wenn ich den anderen liebe, fühle ich mich eins mit ihm, und zwar so, wie er ist, nicht so, wie er sein sollte, damit ich ihn als Objekt verwenden könnte.“ Was hat der Inhalt dieses Satzes mit Dir als lächelnden Papst, der nur eine sehr kurze Zeit die Kirche lenken konnte, zu tun? Nun, der Satz bringt das zum Ausdruck, was in Deinem Lächeln, aber auch in Deiner Haltung und in Deinen Vorsätzen, mit denen Du das Pontifikat ausfüllen wolltest, tief verwurzelt gewesen ist. Nicht der Ausdruck der Macht über die Gläubigen war die Triebfeder, sondern die Liebe zu den Menschen, denen Du ein Stück den Weg in den Himmel (im übertragenen Sinne zu verstehen) zeigen wolltest. Es ist überliefert, dass Du als erster Papst der neueren Epoche in dem Zeitablauf unserer katholischen Kirche, auf eine förmliche Krönung, wie sie bei Päpsten vorgesehen und üblich ist, verzichtet hast. Mit dem Lächeln zeigtest Du, dass das, was wir Gott nennen, den Menschen und seiner gesamten Schöpfung wohlgesonnen ist und wir als Menschen nicht als trübe Gestalten, sondern als fröhliche und hoffnungsvolle Kreaturen die Welt bewohnen dürfen, aber auch selbst eine Zukunft haben. Die „Vatican News“ schrieben in einem Bericht im Zusammenhang mit Deiner Seligsprechung durch Papst Franziskus, dass der „einzige Beitrag, den Bischof Albino Luciani auf dem Konzil leistete gerade die Unterstützung der Lehre von der bischöflichen Kollegialität gewesen sei. Als Papst Paul I. war er davon überzeugt und unterstützte sie“. Und hier führt eine Parallele zu dem Ausspruch von Erich Fromm. Es ist wichtig, den anderen zu lieben, um eins mit ihm zu sein. Allerdings nicht so wie der andere sein sollte, sondern so wie er ist. Damit wird zum Ausdruck gebracht, dass auch diejenigen, die eine herausragende Position bekleiden, ihre Mitmenschen nicht als Objekte behandeln dürfen, sondern als eigenständige Subjekte, denen nicht vorgeschrieben werden darf, was sie zu denken, was sie zu handeln und wen sie zu wählen haben. Die Botschaft von Dir, Paul I., ist somit mehr als aktuell und ist nicht nur an die eigene Kirche, sondern an die Welt schlechthin gerichtet. Sie entspricht auch einem normativen Humanismus eines Erich Fromm, weil darauf hingewiesen wird, dass der Mensch nicht eine beliebige Knetmasse ist, die man nach den eigenen Vorstellungen oder den Vorstellungen einer Ideologie frei gestalten und formen kann. Der Mensch ist bereits in einen soziokulturellen Rahmen eingebunden, wobei man dies als Christ auch als eine göttliche Führung bezeichnen darf. Es bleibt ihm die Freiheit, sich gemäß seiner eigenen körperlichen und geistigen Bestimmtheit, in eine von ihm selbst gewählte Richtung zu entwickeln. Er allein muss insofern seinen Weg selbst bestimmen.
Wie schön und wie hoffnungsvoll wäre es, wenn heute wieder Dein Wirken, dass leider bereits nach 33 Tagen als Papst abgebrochen wurde, von denjenigen, die sich heute als Führer darstellen, sei es in der Politik oder sei es in unserer Kirche, in das Bewusstsein vieler Menschen aufgenommen würde. Bei einem solchen Verhalten gäbe es keinen Hass, keine Zwietracht und kein gegenseitiges Vernichten. Vielleicht sendest Du doch wieder einen Impuls auf diese Erde. Manchmal gibt es Persönlichkeiten auch in dieser Zeit, die den Geist und das Anliegen eines Paul I. praktizieren.
Dann wird es vielleicht auch wieder möglich sein, dass die Christen die Hinweise aus der Bergpredigt von Christus wieder mit einem anderen Sinn füllen. Denn bereits Christus sagte: „Liebe Deinen nächsten wie Dich selbst“. Wer das macht, wird den anderen nicht bevormunden oder ihn gar verachten.
Es grüßt Dich herzlich Dein Erdenbürger Jörg-Michael Bornemann